Warum gerade bei orthopädischen Problemen eine auf das jeweilige Geschlecht abgestimmte Therapie wichtig ist, erklärt Professor Dr. Peter Diehl, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie im Orthopädiezentrum München Ost.
Herr Prof. Diehl, Sie werben eindringlich dafür, in der Orthopädie eine Therapie auf das jeweilige
Geschlecht abzustimmen. Ist nicht Knochen Knochen und Gelenk Gelenk?
Prof. Dr. Peter Diehl: Nein, es gibt auch beim Knochenaufbau erhebliche Unterschiede zwischen Mann und Frau, deshalb sollte ein guter Orthopäde das Geschlecht bei der Therapiewahl mit berücksichtigen. Nur ein bekanntes Beispiel: Die Arthrose ist eher weiblich. Ab dem 50. Lebensjahr ist jede dritte Frau von Arthrose betroffen, ab dem 60. sogar jede zweite. Zum Vergleich: Bei Männern ab 50 leidet jeder vierte an Arthrose, ab 60 jeder dritte Mann. Warum mehr Frauen als Männer an Arthrose leiden, ist wissenschaftlich noch nicht belegt. Vermutet wird aber, dass die hormonelle Umstellung nach der Menopause ein Risikofaktor sein könnte. Ein weiterer Risikofaktor wird dagegen vor allem den Männern zugeschrieben, nämlich Übergewicht und Mangel an Bewegung. Sprich: Möglicherweise wird die gleiche Erkrankung bei Männern und Frauen unterschiedlich ausgelöst und muss dann auch unterschiedlich therapiert werden.
Was sind aus orthopädischer Sicht die großen Unterschiede zwischen Frau und Mann?
Prof. Dr. Peter Diehl: Der Körperbau von Frau und Mann unterscheidet sich in mehreren Punkten. Männer haben etwa ein Drittel mehr Knochenfläche als Frauen, allein wegen ihrer Körpergröße. Frauen haben andere biologische Voraussetzungen: Geringere Körpergröße, geringere Knochenmasse, geringere Muskelmasse und einen höheren Körperfettanteil. Dazu kommen noch andere Faktoren, die sich auf die Statistik auswirken: Frauen werden in der Regel älter als Männer. Das Risiko beispielsweise an Arthrose zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter stark an. Sprich: Bevor wir Männer Arthrose bekommen, hat uns oft schon das Zeitliche gesegnet. Auch die Lebensweise und die Anforderungen im täglichen Leben sind für Frauen und Männer unterschiedlich. Und für viele orthopädische Erkrankungen spielt Abnutzung eine wesentliche Rolle.
Welche Rolle spielen hormonelle Einflüsse, z.B. die Menopause bei Frauen?
Prof. Dr. Peter Diehl: Auch wenn der letzte wissenschaftliche Beweis noch fehlt, gehen wir davon aus, dass der Östrogen-Mangel nach der Menopause die Osteoporose begünstigt. Dies wiederum ist bei älteren Frauen die Hauptursache für einen Knochenbruch. Vor Jahren wurde deshalb eine
Östrogenersatztherapie zur Behandlung der Osteoporose bei Frauen propagiert, vor der ich nur warnen kann. Die Nebenwirkungen sind eklatant.
Bei welchem Gelenk wird der Geschlechterunterschied besonders deutlich?
Prof. Dr. Peter Diehl: Beim Knie. In der Folge bekommen deutlich mehr Frauen ab 50 als Männer im gleichen Alter eine Kniegelenksprothese. Als Gründe kommen neben den hormonellen Faktoren auch anatomische Unterschiede bei Knochen, Sehnen und Bändern in Frage. Dies gilt auch übrigens auch für den Kreuzbandriss. Auch hier haben Frauen ein deutlich höheres Risiko. Der Grund: Bei Frauen ist der Abstand zwischen den beiden Gelenkfortsätzen geringer als bei Männern. Außerdem ist bei Frauen von Natur aus der Knorpel dünner als bei Männern. Dies führt zum schnelleren Durchscheuern und letztendlich zur Arthrose.
Prof. Dr. Peter Diehl: Vor über zehn Jahren kam das erste künstliche Kniegelenk speziell für Frauen auf den Markt, nachdem man festgestellt hatte, dass das einheitliche Kniegelenk für viele Frauen nicht passt. So ist das untere Ende des Oberschenkelknochens bei der Frau seitlich nicht so ausladend wie beim Mann. Dies bedeutet: Passt die Knieprothese von der Länge, steht es bei Frauen häufig seitlich über. Mithilfe der 3D-Vermessungen wurde deshalb ein spezielles Kniegelenk für Frauen angefertigt. Auch bei Hüftgelenken gibt es übrigens Gender-Unterschiede.
Welche weiteren Erkrankungen sind bei Frauen häufiger anzutreffen?
Zweitens: Frauen leiden eher an einer Überbeanspruchung des Handgelenks. 90 Prozent der Patienten mit einer Arthrose der Fingergelenke, der sogenannten Heberden-Arthrose, sind Frauen. Typisch für Frauen ist auch die Tendovaginitis de Quervain. Das ist eine Sehnenscheidenentzündung im Handgelenk, die durch eine Überbeanspruchung des Daumens ausgelöst wurde.
Auch arthrotische Veränderungen der Hand kommen bei Frauen häufiger vor. Von rheumatoider Arthritis an den Handgelenken – der häufigsten rheumatische Erkrankung – sind Frauen zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer.
Drittens: Die Kalkschulter, eine zum Teil sehr schmerzhafte Erkrankung der Sehnen des Schultergelenks, die zu Unbeweglichkeit und Entzündungen führt. Auch hiervon sind leider die Frauen öfter betroffen.
Viertens: Frauen verstauchen sich häufiger den Knöchel, laut einer amerikanischen Studie sogar zweimal häufiger als Männer. Der Grund: Die Bänder, die das Gelenk halten, sind weniger stark ausgeprägt.
Und fünftens: Der Hallux valgus unter dem so viele Frauen leiden und dem oft ein Spreißfuß vorausgeht.
Werden diese Unterschiede zwischen Mann und Frau in der Orthopädie bereits genügend berücksichtigt?
Prof. Dr. Peter Diehl: Erstens das Carpaltunnelsyndrom. Beim sogenannten CTS liegt eine Schädigung eines Nervs im Handbereich vor, was wiederum zu Symptomen wie nächtlichem Kribbeln und einem Taubheitsgefühl von Daumen bis Mittelfinger führt. Im späteren Stadium können auch Schmerzen beim Greifen auftreten. Als Ursache geht man von Wassereinlagerungen im Karpaltunnel aus. Das CTS kommt vor allem bei älteren Menschen vor, wobei Frauen drei- bis viermal häufiger betroffen sind als Männer. Übrigens kann auch eine Schwangerschaft ein CTS auslösen.
Der Ballenzeh ist ein typisches Frauenleiden. Ab wann sollte operiert werden.
Prof. Dr. Peter Diehl: Eine Operation zur Hallux-valgus-Therapie kommt vor allem dann in Frage, wenn dieser Schmerzen bereitet und nicht-operative Maßnahmen nicht ausreichen. Als Ursachen für die Entstehung gelten eine familiäre Veranlagung und vor allem fußschädigendes Schuhwerk, also High Heels, die übrigens noch für weitere Risiken sorgen, nämlich für eine Verkürzung der Wadenmuskeln und für Probleme an der Wirbelsäule.
Prof. Dr. Peter Diehl: Das Bessere ist der Feind des Guten, deshalb halte ich es natürlich für sinnvoll, wenn die Kollegen in den orthopädischen Praxen noch stärker für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede und ihre möglichen Konsequenzen sensibilisiert werden. Auch in der Forschung sollten diese Unterschiede zwischen Frau und Mann noch mehr Beachtung finden. Das künstliche Kniegelenk speziell für Frauen war eine sinnvolle Entwicklung. Darüber hinaus gibt es viele Faktoren, die beim Einsetzen eines künstlichen Gelenks eine Rolle spielen, z.B. das Gewicht und die Lebenssituation der Person, die das Gelenk bekommt, welchen Belastungen sie ausgesetzt ist und vor allem, wie alt sie ist.
Über Prof. Dr. med. habil. Peter Diehl
Prof. Dr. med. habil. Peter Diehl ist Facharzt für Orthopädie sowie Chefarzt der minimalinvasiven Schulter- und Kniegelenkschirurgie. Er studierte Medizin an der TU München und ist seit 2006 Facharzt für Orthopädie und seit 2009 Facharzt für Unfallchirurgie. Nach Stationen in internationalen Kliniken hat er sich an der Universitätsklinik rechts der Isar und der Universitätsklinik Rostock als Leiter der Sportorthopädie auf die Bereiche Schulter- und Kniegelenkchirurgie spezialisiert. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die minimal-invasive Gelenkchirurgie und regenerative Knorpeltherapie.
Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte konzentrieren sich auf die Forschung und Entwicklung von zellulären Untersuchungen zur Regeneration von Knorpelgewebe und deren klinische Umsetzung.
Prof. Dr. Peter Diehl ist maßgeblich an der Entwicklung moderner und minimal-invasiver Operationsverfahren beteiligt und hat bisher über 100 Publikationen in internationalen Fachzeitschriften und Büchern verfasst, über 200 Vorträge weltweit gehalten und war für die wissenschaftliche Leitung und Organisation von mehreren Kongressveranstaltungen verantwortlich.
Mehr Informationen unter: www.orthopaediezentrum-muenchenost.de